Hartmut T. Reliwette
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REZENSIONEN  


Brigitte Riebe:
Palast der blauen Delphine

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"Der Roman von Brigitte Riebe wirkt wie eine traumhafte Rückkehr in die Kindheit, als wir noch an Märchen glaubten oder zumindest nicht ausschließen wollten, dass sie wahr sind."
Das sagt ein Berliner Rundfunksender.

Dieser Abschnitt des Klappentextes würdigt in keinem Falle weder die unglaublich detailgetreuen Schilderungen frühkretischen Kultur (Heilmethoden, Kunst, Schiffbau, Werkzeuge, Mobiliar, Kleidung, Gebrauchsgegenstände, Kosmetika, Bauten pp.) aus Sicht der Historikerin, noch hebt er die im phantasievoll kreierten Handlungsablauf der Erzählung eingebundenen Lebensweisheiten, die den weisen Frauen und Priesterinnen Kretas in den "Mund gelegt" werden, hervor.

Sie besitzen z.B. in der Antroposophie zumindest teilweise bis in die heutige Zeit Gültigkeit. So mögen zeitkritische Zeitgenossen in der geschilderten Handlung um den Mythos der kretischen Frühkultur ebenso viele Lebensweisheiten entdecken wie auch Romantiker auf den Spuren altgriechischer Sagen ohne Ansprüche auf gesellschaftspolitische Umsetzung in die Problematik unserer heutigen Gesellschaft.

Befasse ich mich mit der Erzählung selbst: Über 40 griechische Namen sind als Personen des Romans aufgelistet. Wenn der Leser weiterblättert, stößt er auf eine Widmung, sodann auf ein Zitat von Jean Paul:

"Wenn Ihr nicht Augen habt, um zu sehen,
werdet Ihr Augen haben, um zu weinen."

Dieser Erkenntnis kann sich einer nur anschließen... Sodann beginnt ein Prolog, kursiv gedruckt bis zu jener Stelle, wo der träumende bzw. sehende Protagonist erwacht: Eine Naturkatastrophe, den Ausbruch des "schwarzen Berges", der ein Vulkan ist. Er befindet sich auf der Insel Strongyle, die heute Santorin ist.

Das erste Buch führt durch die vier Elemente: Der Protagonist heißt "Astros", der von einer Ziehmutter aufgezogen und gelehrt wird, und der einmal "Asterios" werden soll, der den Sternen Gleiche ; ein Kind, aus der außerehelichen Beziehung der Königin Pasiphae und dem Stierköpfigen aus dem Meer hervorgegangen, einer den Lesern zunächst unbekannten "ritualen Person", die anlässlich der "Heiligen Hochzeit" die höchste Priesterin nicht nur symbolisch begattete.

Noch weiß der Junge nichts von seiner Bestimmung und seinem Schicksal, das ihm von den weisen Frauen geweissagt wird. Minos, der Gemahl der Königin, musste dem Paarungsritual beiwohnen und hat unter der Vorherrschaft des Matriarchats nicht viel zu melden. Gleichwohl wurde der "Bastard" in Sicherheit gebracht, um den Nachstellungen des Minos zu entgehen. In einer Höhle, wohin ihn seine Ziehmutter führt, muss er drei Tage ausharren, bekommt Pilze zu essen, die ihn in eine Art Rauschzustand versetzen und eine Begegnung mit sich selbst auslösen. Aus Astros wird Asterios. Aus dem Knaben wird der Mann. Im Rahmen der "großen Zählung", mit einer Leihherde Ziegen ausgestattet, begegnet er seiner Mutter, der Königin Pasiphae zum ersten Male. Er soll ihr zum Zeichen der Erkennung ein mystisches Symbol übergeben, welches ihm die Ziehmutter mitgegeben hat. Vorher lernt er zufällig Ariadne kennen und lieben. (Ariadne ist der Sage nach jene Geliebte des Theseus, die ihm mittels Fadenwerk wieder aus dem Labyrinth half, nachdem er den Minotaurus getötet hatte). Bei Brigitte Riebe spielt sich das etwas anders ab: Wird zur eigenen Geschichte, zur eigenen Interpretation des kretischen Mythos.

Ariadne und Asterios werden Geliebte, obschon sie eigentlich seine Halbschwester ist. Auch diese Erkenntnis fügt sich im Laufe der Erzählung nahtlos ein wie die Weissagung, dass eines Tages der Lilienprinz kommen wird, der den Pfauenthron besteigen wird und Kreta aus größter Bedrängnis retten wird. Das erfährt der Leser aber erst später, denn die Erzählung ist in zwei weitere Bücher aufgeteilt, die wiederum in mehrere Kapitel gegliedert sind.

Die von der Autorin (re)konstruierte Vormachtstellung der Frauen und der damit verbundenen "erdnahen" Existenzphilosophie dürften den/die Leser auf eine wichtige existentielle Frage hinweisen: Ist das bewahrende Element im Jetzt als tragfähige Grundlage für eine Gemeinschaft stärker zu bewerten als die absichernde, in die Zukunft gerichtete Sicherheitsstrategie der Männer, die im Wettlauf des Rüstens erst einmal für gegenseitige Bedrohung sorgen? Ausgerechnet der Vater des Ikaros (Ikarus), Daidalos (Dädalus), (die Autorin verwendet entsprechend zeitgeschichtliche Namen, um sie in die (Epoche) Handlung einzubeziehen) wird zum Erzschmied des Minos, der ihn damit beauftragt, zunächst Pfeilspitzen aus Eisen herzustellen, später andere Waffen. Zuletzt genannt wird die Pflugschar. Daidalos (Dädalus), der Athener, hat Dreck am Stecken, hat sich versündigt, aus Eifersucht einen Neffen in einen Abgrund gestoßen. Um seine Schuld zu sühnen, besucht er heimlich eine dunkelhäutige Nubierin mit gewaltigen Brüsten und Schenkeln, die ihm die "Gnade erweist", ihn auszupeitschen. Der Leser kann sich eines Schmunzelns nicht erwehren, wenn er an diese Stelle vorgedrungen ist, an der in Intervallen aufflackernde Bestrafungssehnsüchte des Daidalos geschildert werden. Eine frühgeschichtliche Abwandlung der heutigen Domina? Ernster zu nehmen sind die Bewältigung männlicher Schuldkomplexe durch den Selbstbestrafungsmodus!

Aber Daidalos, einst Baumeister von Athen, gerät noch in andere Bezüge zur Zeit-Genossenschaft des Minos: Er wird zum Erfinder der Montgolfiere, einem mit Holzkohle befeuerten Ballon an seltsamem Flugapparat, der Vortrieb mittels Flügeln erhält. Der Sage nach soll ja sein Sohn mit seinen wachsverbundenen Flügeln der Sonne zu nahe gekommen sein, worauf das Wachs zu schmelzen begann und den tödlichen Absturz verursacht habe. Auch diese Version ist mystisch, sollte doch niemand dem Himmel zu nahe kommen...

Die weisen Frauen, verkörpert durch die Priesterinnen, lassen den putschenden König Minos leben, nachdem sein Versuch gescheitert ist, die Machtverhältnisse auf Kreta unter männliche (seine) Domäne zu wandeln. Das wird als Retro-Perspektive lediglich an einer Stelle erwähnt, ist der Autorin offensichtlich zu banal, daraus eine längere Geschichte zu machen. Minos wird einfach in seine Schranken gewiesen. Seinen "Mitputschern" drohte zum Teil Exil oder der Tod. Trotzdem versucht er weiterhin hinter dem Rücken der "großen Mutter" seine politischen Ränkespielchen zu treiben - die große Mutter als Schöpferin allen Seins wird irdisch durch die höchste Priesterin vertreten, die gleichzeitig Königin ist, Pasiphae. Zielscheibe dieser finsteren Machenschaften ist insbesondere Aigeus, der vergreisende König von Athen, der ihm Tribut schuldig ist. Vor Jahren ist Androgeus, der älteste Sohn des Minos, in Athen nach siegreichen Wettkämpfen meuchlings getötet worden. Das Orakel von Delphi aber hat die Schuldfrage geklärt, so dass sich Minos ausbedungen hat, als Blutzoll aus Athener Nachwuchspotential alle neun Jahre 7 männliche und sechs weibliche Heranwachsende nach Kreta zu bringen, wo sie in kretischer Kultur und Weltanschauung unterwiesen werden. Theseus wird durch eine Manipulationslist des Minos (Namenspfusch auf Zetteln in der Wahlurne) zusammen mit den anderen jungen Männern und Frauen ausgewählt und nach Kreta gebracht. Der Held Theseus wird von der Autorin als bauerngesichtiger Hitzkopf geschildert, der in sportlichen Disziplinen besser befähigt ist als in dem Gebrauch von Kopf und Manieren. Kulturell betrachtet verkörpert er eine "Kultfigur" der Peinlichkeit, keinesfalls aber einen würdigen Thronfolger Athens. Asterios, inzwischen einziger hoher Priester in der Frauendomäne, wird zu seinem gehassten Gegner u.a weil er sich der "Weiblichkeit" unterwirft. Dieser aber besitzt das zweite Gesicht. Wenn er sich dem blauen Lichtschein hingibt, wird er mit düsteren Vorahnungen bzw. Visionen konfrontiert.

Diejenigen, die im Sinne der großen Mutter ausgebildet werden, sind die Mythen. Sie müssen sich im Rahmen ihrer Ausbildung verschiedenen Prüfungen unterziehen wie etwa dem "Stiersprung" oder dem "Kranichtanz", der sie u.a. befähigt, sich in den Spiralen des Labyrinths zurechtzufinden. Sie führen zum Mittelpunkt, in den Schoß der Mutter Erde, aus der alles geboren wird - und natürlich wieder hinaus. Das Labyrinth selbst wird als ein unterirdischer Irrweg dunkler tiefer führender Gänge geschildert, mal derart niedrig, dass der Wandler mit dem Kopf anstößt, sich kriechend fortbewegend symbolisch den "Himmel" berührt.

Zuweilen werden auch erotische Begebenheiten beschrieben, denn selbst in einer vom Matriarchat geführten frühkretischen Gesellschaft gibt man sich, den Vorstellungen der Autorin folgend, nicht prüde. Historisch betrachtet war man den Liebesfreuden nicht abgeneigt. Durch die Feder der Autorin fließen leidenschaftliche Liebesszenen, gefühlvoll, phantasieanregend, Details nicht auslassend, aber nie pornografisch. Wer hinter der Schilderung einer vom Matriarchat dominierten Gesellschaft einen Vorwand der Autorin vermutet, es würden männerfeindliche emazipatorische Argumente zu Felde geführt, irrt, denn im Laufe der sehr mystisch - romantischen Erzählung werden auch die Irrungen des weiblichen Geschlechts betont: Bei Ariadne, schließlich bei der Königin selbst, die der Verheißung (durch den Lilienprinzen verkörpert) nicht genügend folgt, also inkonsequentes Verhalten beweist, das zu falschen Entscheidungen führt Sie mögen den Leser enttäuschen. Die von Asterios ausgelöste Flucht vieler Bewohner von der Vulkaninsel nach Kreta - als logische Reaktion auf seine Prophezeiung - bewirkt eine Konfrontation mit Pasiphae und ihren Priesterinnen. Nur widerwillig gewährt die Königin schließlich Asyl.

Asterios wird zum Hüter des Labyrinths, zum Träger der Stiermaske, ist in Brigitte Riebes Erzählung der Minotaurus des Labyrinths von Kreta - Wächter des Schoßes der Mutter Erde. Die Visionen seines zweiten Gesichtes, die Gabe des Sehens, erfüllen sich auf mannigfache Weise. Die Spannung nimmt zu. Theseus flieht von Attika, er führt die lederne Stiermaske des Minotaurus als Trophäe mit sich. Die Flotte des Minos wird ein Opfer der Flammen. Ariadne wird von der Autorin eine tragische Rolle zugedacht, ebenso anderen Protagonisten. Die letzte Vision des Asterios erfüllt sich. Seine Warnung hat nur wenige erreicht: "Tod der Sonne".

Im abschließenden Epilog kommt noch einmal die Autorin zu Wort. Diesmal meldet sie sich als Historikerin, gibt informative Hinweise zur Auslegung und Interprätation historischer Hintergründe und Erkenntnisse zum "Mythos des Kreta zur Zeit Königs Minos".

Der Palast der blauen Delphine? Ihn gibt es in Knossos, ein Symbol der Gewaltlosigkeit, denn - so weiß es die Autorin - zeigt keine der Freskenmalereien ein kriegerisches Motiv. Die Delphine aber bleiben aus, wenn vom schwarzen Berg Unheil droht.

Hartmut T. Reliwette

Brigitte Riebe: Palast der blauen Delphine,
Roman, 493 Seiten 9. Auflage, September 2003,
Taschenbuch-Format mit Hard Cover,
Piper-Verlag GmbH, München,
ISBN 3-492-22274-9 Preis: 10,90 Euro.