Hartmut T. Reliwette
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REZENSIONEN  


Tatort FloraFarm:
Kurzkrimis im Anthologie-Charakter

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Sie haben sich gut organisiert, die Krimi-Autoren und Autorinnen. Die männlichen Schreiber unter ihnen zunächst im „Syndikat“, was sich sehr nach „Mafia“ anhört und die weiblichen in „Sisters of Crime“, was sich eher mit dem Gangsterpärchen „Bonny and Clyde“ asozieren lässt.. Allmählich wurde das nach irgendwelchen Kriterien aufgelockert – und siehe da, man trifft nun auch Autorinnen im „Syndikat“ an. Insgesamt 15 Autoren/innen haben sich auf das Wagnis eingelassen, ihre rein fiktiven Kriminalgeschichten in oder um eine/r Ginseng-Farm in der Nähe von Walsrode anzusiedeln. Aus gutem Grund: Stecken doch die Anlagen –Betreiber dieses Gesundheitswurzes hinter dem Projekt, den Verbreitungsgedanken ihres Produktes mit eben denen der Krimi-Schreiber eine gewisse Symbiose beizumessen, die beiden dienlich ist. Die Wirkung des Ginsengs soll u.a. auch dem Leser von Kurzkrimis zugute kommen, und so begann der Stapellauf des gemeinsamen "Schiffes, Tatort FloraFarm" mit einem gut organisierten Event unter Beteiligung der örtlichen Kriminalpolizei, die zwischen den einzelnen Lifeauftritten der anwesenden Autoren Kurzreferate nicht nur über Spurensicherung an die Zuhörerschaft richtete. Auch der Begriff des "Profilings" spielte in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle...

Blättert man vor Lesegenuss durch die Kurzbiografien der beteiligten Autoren/innen, fallen vorwiegend bekannte Namen ins Auge., hoch dekorierte Schreiber/innen und andere, die durch andere Praemissen ihrer biografischen "Landschaft" glänzen. Ein Pulitzer-Preisträger befindet sich derzeit nicht unter dort aufgeführten Krimi-Aktivisten. Das dürfte dem Krimi_Leser auch egal sein zumindest so lange, wie er nicht imstande ist, diesen Literaturpreis Dr. Oetker zuzuordnen oder einem Instant-Kaffee-Hersteller.

Schreiben können sie alle, zweifellos. Gemeinsames "Handicap" war, dass alle Geschichten rund um die FloraFarm anzusiedeln waren, um besagte Symbiose im Gleichgewicht zu halten. Einige Krimischreiber taten dies in der Perepherie des Anwesens, andere bauten sogar mehrere Mitglieder oder einzelne Personen der Ginseng-Anbau-Familie in die Handlung mit ein. Da sich die einzelnen Macher/innen nicht unter einander detailliert abgesprochen zu haben scheinen, tauchen mehrere Details des Herstellerbetriebes sowie der Ginsengpflanze selbst in verschiedenen Geschichten immer wieder auf, was einem "Running Gag" der Stummfilmzeit nahe kommt. So wird der Leser sich den Namen des Hofhundes "Hermann" nach Lesegenuss mit Sicherheit eingeprägt haben. Auf die Idee, den Gang zur Toilette im Haupthaus zu beschreiben, ist allerdings keiner gekommen, so dass der interessierte Besucher sich demnächst beim Personal durchfragen muss. Alle Geschichten und deren Verfasser ausführlich zu besprechen, käme einem Epilog gleich und ist nicht Aufgabe des Rezensenten. Eine Bewertung ist in jedem Falle ungerecht und subjektiv. Was mir allerdings ins lesende Auge gefallen ist (ich bin "von Haus aus betriebsblind"), lässt sich mit wenigen Sätzen sagen: Die mehr oder weniger kriminellen Handlungen (meist mehr) der Erzähler erschöpfen sich nicht in klassischen Kriminalfällen analog zum "Tatort", wenn es zum Beispiel um das spannungsgeladene Szenarium einer Entführung mit erfolgreicher Aufklärung geht (Karsten Overbeck) "Der Brief".

Malachy Hyde, ein Pseudonym für das Autorinnen-Duo (Ilka Stitz und Karola Hagemann), schildert (n) in der Erzählung "Das Gold der Erde" die Situation einer archäologischen Ausgrabungsstätte und deren Initiatoren inmitten der wertvollen Ginsengpflanzung. Alles wird detailliert beschrieben, in die Handlung einbezogen und natürlich die fiesen Verhaltensweisen zumindest einer der Hauptpersonen. Hier fließen psychologische und pädagogische Kenntnisse in den Handlungsablauf ein. Die Juniorchefin der Ginseng-Farm wird zur Mitwisserin. Wenn der Leser einmal den Betrieb besuchen sollte: Nach einer Stelle ausspähen, an der das Gras besonders hoch wächst! Eine römische Goldmünze wird dort nicht zu finden sein, auch kein etruskisches Pferdegrab!

Ganz psychologisch-satirisch hat Anke Cibach ihre "Aber bitte mit Ginseng"- Story aufgebaut. Sie beschreibt die Ereignisse während einer "Verkaufsfahrt" in die Nähe des schon beschriebenen Anwesens. Satire ist ja bekannt als überzeichnende Darstellung eines Themas oder Handlungsabläufen. Der Leser wird - sofern er aus einem solchen Unterfangen bereits eigene Erkenntnisse gesammelt hat, an verschiedenen Stellen lauthals lachen. Erstaunt wird er auf jeden Fall darüber sein, mit welchen Konsequenzen "graue Panther" (Anmerkung des Verfassers) auf diese und ähnliche Verkaufsfahrten reagieren.

Regula Venske weiß in "Schienbein ans Herz" zu berichten, dass es nicht nur männliche Heiratsschwindler gibt und wie man ihnen auf die Schliche kommt. Außerdem warnt sie indirekt vor übertriebenen Yoga-Übungen. Aber es kommt alles ganz anders.

Renate Müller-Pieper warnt in ihrer Schilderung- "Go Ginseng" vor "verlobungswütigen Altersprinzen" (Anmerkung des Verfassers) und empfiehlt indirekt eine rechtzeitige Abnabelung von der Übermutter. Betroffen ist nicht nur wieder einmal die Juniorchefin des Unternehmens, welche unfreiwillig eine Komparsenrolle in dem Kurzkrimi übernehmen muss, sondern im wahrsten Sinne des Wortes der verhinderte Verlobte selbst. Dass kleinkalibrige Pistolen nicht silberbeschlagen sind, sondern wie ihre größeren Produktgenossen zuweilen verchromt und/ oder mit elfenbeinfarbenen Griffschalen ausgestattet sind, löst keine Eintrübung der Lesefreude aus.

Krimis müssen sich nicht ausschließlich mit irdischen Bewohnern befassen. Das beweist Peter Gerdes mit "Galaktischer Ginseng". Ihm gelingt es mühelos, einen Bogen zu spannen zwischen seinem Romanhelden, Hauptkommissar Stahnke aus Leer/Ostfriesland, und dem Hauptmulator Schulz, einem "Ulriker" (aus dem "Nebelschwadron-Schlagmichtot" Anmerkung des Unterzeichners, der da an anderer Stelle vom Autor erfahren hat, "dass ein Ulriker nicht zwangsläufig der Gatte einer gewissen Ulrike" sei). Der Bogen, den der phantasiebegabte P. Gerdes spannt, bezieht auch die Ginseng-Szenerie in den Kreisverkehr vor dem Bahnhof Leer mit ein. Er ist auch der einzige unter den Autoren, der die chemische Zusammensetzung einer "Ginseng-Dröhnung" (Anmerkung des Verfassers) wie beiläufig erwähnt. Der Autor führt die Begegnung zwischen dem Hauptkommissar und den Außerirdischen konsequent zuende. So erfährt der Leser, welche Gegenleistung zumindest von Außerirdischen für eine Packung Ginseng erbracht wird...

Wie Ganoven andere Ganoven austricksen, schildert Günter Gerlach humorvoll und sachkompetent in seinem Kurzkrimi "Lass mich nachdenken". Die Handlung beschreibt drei Ganoven, die ihre Planung ein wenig aus dem Bauch heraus einstielen und auf diese Weise der realen Einschätzung von Situationen verlustig gehen. Aber was hilft die beste Planung, wenn sich Situationen ganz anders einstellen?

Kai Engelke baut seine kurzen Kriminalgeschichten auf sozialen Hintergründen und Spannungsfeldern bis hin in den Familienverbund auf. So auch in der Geschichte "Familienbande". Geschildert wird das Spannungsverhältnis insbesondere in einer Vater/Sohn-Beziehung, deren Ursache in der Anamnese des Vaters zu suchen und zu finden ist. Die Handlung ist in zahlreiche Dialoge zwischen mehreren Mitgliedern der Familie eingebettet, anschaulich dargestellt und endet tragisch. Das Verständnis des Lesers für beide "Parteien" wird auf die Probe gestellt.

Alexandra Guggenheim präsentiert eine "Überlebenskünstlerin", die ihre jahrelang ertragene Demütigung durch den Ehegatten durch eine "finale Tat" für sich zufriedenstellend bereinigt. Der Bezug zu Ginseng? Der Leser wird es erfahren...

Birgit Hölscher schildert in "Der Schrei der Alraune" eine lebhafte ältere Dame, die ihren Neffen bei jeder sich bietender Gelegenheit in die Seite pufft. Der allerdings plant , die für ihn schrullige Alte um die Ecke zu bringen. Er hat aber nicht damit gerechnet, dass die rüstige Lady im Internet surft....

Zicken-Zoff kann der Leser hautnah nachvollziehen, wenn er den Kurzkrimi "Die Freundin" von Monika Buttler verfolgt. Ein ambivalentes Verhältnis zur Busenfreundin gerät außer Kontrolle...

"Vom Pflanzen eines Apfelbaumes" erzählt Dieter Bromund. Aber seine Protagonisten haben den Sinnspruch Martin Luthers nicht richtig verstanden. "Nimm noch Rache an jenem, der Dich betrogen hat und setze Deinem Leben ein Ende" scheint diese Botschaft für sie zu lauten. Wenn einer über siebzig ist und überdies eine Krebserkrankung für den Betreffenden qualvolles Dahinsiechen bedeutet, weshalb nicht noch jemanden umbringen, der "es verdient" hat? Da es sich um zwei Personen handelt, die noch eine "Rechnung offen" haben, bahnt sich eine verhängnisvolle Dreierbeziehung an, denn da baut ein Freund seinen eigenen Apfelbaum an. Doch zuvor betritt ein befreundeter Arzt die Bühne, gegen den auch in gewisser Weise ein Apfelbaum gepflanzt wurde. Eine skurrile Geschichte mit noch skurrilerem Ausgang. Der Leser atmet auf: Eine Geschichte ohne Bezug zur Ginseng - Tatort-FloraFarm?

August Gödecke benutzt in seinem Mini-"Tatort" einen eher klassisch - kriminellen Tatvorgang , den Überfall auf einen Geldtransporter samt Verhaftung, Untersuchungshaft, Vorführung vor den Untersuchungsrichter. Eine junge Staatsanwältin scheint überfordert. Die Freilassung eines der Täter wegen Mangels an Beweisen erfolgt. Die Beutesicherung aus dem Versteck auf dem Gelände der Florafarm scheint einfach. Doch der Übeltäter hat verschiedene Dinge nicht auf seiner Rechnung...

Wenn Anke Gerdes über "Tollwut" berichtet, könnte das doppelsinnig gemeint sein. Zum einen ist die Katze von einem Fuchs gebissen worden, zum anderen beschäftigt sich ihr Mann zusehends zu intensiv mit ihrer langjährigen Freundin, die zu Besuch kommt. Die Katze wird labortechnisch untersucht. Der Befund ist positiv....

Insgesamt mehr oder weniger erschreckende Tat- und Begleitumstände. Die zuvor genannte Symbiose zwischen der FloraFarm und den Autoren als verkaufsfördernde marktstrategische Gemeinschaftsaktion stört weniger in den einzelnen Geschichten der Krimi-Schreiber , von denen einige sehr dick auftragen, sondern eher im Gesamtkomplex.

Freunde des Kurzkrimis kommen auf ihre Kosten. Wer allerdings mit der zeitgenössischen Literatur die Erwartung verknüpft, das gesellschaftliche Bewusstsein innerhalb der Republik zu erweitern, fühlt sich nicht in jedem der hier publizierten Kurzkrimis bestätigt...

Hartmut T. Reliwette

Tatort FloraFarm, 15 Kurzkrimis rund um die Bockhorner Ginseng-Gärten,
210 Seiten, Paperback, Illustrationen von Barbara Bossmeier,
Herausgeberin Gesine Wischmann, Verlag Juwi Mac Millan Group,
ISBN 3-00-014260-6, Preis: 8,90 Euro.